Mittwoch, 25. Mai 2016

Der Konflikt in Belutschistan



Im Herbst 2007 verhängte Präsident Musharraf den Ausnahmezustand, nachdem bei einem Attentatversuch auf die Oppositionspolitikerin Benazir Bhutto in Karatschi 139 Menschen ihr Leben verloren hatten. Am 27. Dezember 2007 wurde Bhutto dann durch ein weiteres Attentat in Rawalpindi ermordet. Diese dramatische Entwicklung lenkt den Blick sorgenvoll auf den pakistanischen Staat, dessen gewalttätige Konflikte seit jeher die Nachrichten dominieren. Sämtliche in der publizierten Form aufgeführten Indikatoren betreffend der staatlichen Kernfunktion Sicherheit scheinen durch den pakistanischen Staat nicht erfüllbar zu sein. Im Folgenden werden die einzelnen Konflikte detailliert analysiert und in das theoretische Konstrukt der "Failed State" Konzeption überführt. Inwieweit garantiert der pakistanische Staat noch das Gewaltmonopol?
Eine Vielzahl nichtstaatlicher Gewaltakteure untergräbt seit Bestehen des pakistanischen Staates das Gewaltmonopol. Ihre Schlagkraft, die sich u.a. aus der Tradition des Waffenbesitzes in Teilen der Bevölkerung entwickelte, unterminiert darüber hinaus einerseits die Fähigkeit des Staates, die physische Sicherheit seiner Bürger zu garantieren. Andererseits generieren sich nichtstaatliche Gewaltakteure seit jeher als Gegner der staatlichen Sicherheitsstrukturen und wählen den bewaffneten Konflikt, um ihre politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ziele zu erreichen. Die nächsten Beiträge analysieren die momentan gewalttätigsten und sicherheitspolitisch relevantesten Konfrontationen innerhalb der islamischen Republik Pakistan. Heute fange ich mit Belutschistan an.
Der Konflikt in Belutschistan
Belutschistan grenzt an die Federally Administered Tribal Areas (FATA), an die Provinzen Punjab und Sindh, an die Staaten Iran und Afghanistan sowie mit einer 760 Kilometer langen Küste an das Arabische Meer, nahe der strategisch wichtigen Straße von Hormus. Belutschistan ist die größte und zugleich ärmste der vier pakistanischen Provinzen. Die Grenzen wurden im 19. Jahrhundert durch die britische Kolonialmacht ohne Berücksichtigung der Verbreitung der ethnischen Gruppen gezogen und so existiert bis heute eine Vielzahl von Ethnien in diesem Gebiet nebeneinander. Die Belutschen machen zusammen mit den Brahui und den Paschtunen ungefähr 80 Prozent der Bevölkerung aus. Die einzelnen Siedlungsgebiete der Paschtunen und der Belutschen ziehen sich weit über die Grenzen Belutschistans hinaus. Die Belutschen siedeln ebenso in der iranischen Provinz Belutschistan und im Süden Afghanistans aber auch in den östlichen Provinzen Pakistans Sindh und Punjab. Die im Norden Belutschistans ansässigen Paschtunen leben im Gebiet um die Provinzhauptstadt Quetta bis in den Süden Afghanistan und der Nordwestprovinz (NWFP) Pakistans. Seit dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan 1979 hat die Zahl der Paschtunen, die als Flüchtlinge die Durand Linie überquerten, zugenommen.
 
Die willkürliche Grenzziehung stößt bis heute gerade bei den Belutschen auf Widerstand. Die ethnischen Konflikte gepaart mit einer stiefmütterlichen Vernachlässigung an administrativer Hilfe Islamabads in allen Sektoren [1] bringen in unterschiedlichen Abständen immer wieder eine Forderung nach Autonomie eines "Großbelutschistans" hervor. Im April 1973 kam es zu einem vierjährigen Bürgerkrieg in der Region, nachdem eine Guerillatruppe einen Konvoi der pakistanischen Armee angegriffen hatte. Etwa 55.000 Stammesangehörige kämpften gegen eine ca. 80.000 Mann starke pakistanische Armee, die selbst vom Schah von Persien durch militärische Hilfe unterstützt wurde. [2] Dieser Bürgerkrieg endete mit der Niederlage des Angreifers und war bis 2005 der vorerst letzte in einer Reihe von kriegerischen Konflikten um die politische und wirtschaftliche Einbindung der Region in den Staat. Die wesentlichen Akteure setzen sich aus einer Vielzahl der verschiedenen Stämme unter der jeweiligen Führung der feudal herrschenden Clanführer zusammen.
 
Besonders die Flüchtlingswellen der afghanischen Paschtunen nach Belutschistan ab 1979 und erneut nach dem Fall der Talibanregierung 2001 haben die politische Machtverteilung in der Provinz zerrüttet. Das pakistanische Militär hat die religiösen Extremisten unter den paschtunischen Flüchtlingen bereits kurz nach ihrer Ankunft in Belutschistan unterstützt. Einerseits, um aus ihren Reihen die Mujaheddin zu formieren, die in Afghanistan gegen die sowjetischen Truppen kämpfen sollten, und andererseits, um den säkularen Belutschen, die sich als treibende Kraft bei den Forderungen nach Autonomie hervortaten, ein religiöses Gegengewicht vorzusetzen. Noch heute werden die islamistischen Parteien vom Militär unterstützt, allen voran die Jamiat Ulema-e-Islam (JUI-F), die stärkste Kraft in der islamistischen Sechsparteien-Allianz Muttahida Majlis-e-Amal (MMA).
 
Auch gilt die belutschische Provinzhauptstadt Quetta noch heute als geistiges Zentrum der islamistischen Taliban. [3] Doch die stillschweigende Duldung und teilweise offene Unterstützung der Taliban durch die pakistanische Regierung hat in den letzten Jahren zusehends zur Instabilität in Belutschistan beigetragen. Die Zentralregierung in Islamabad hat den Zugriff auf das Netzwerk der extremistischen Kräfte verloren bzw. teilweise aufgegeben . Zu den separatistischen Spannungen mit den Belutschen ist der Kampf um die "Talibanisierung" der Gesellschaft hinzugetreten.
 
Seit 2005 leistet sich das pakistanische Militär erneut einen bewaffneten Kampf in der Provinz, den die International Crisis Group (ICG) als "low-level" Aufstand bezeichnet. [4] Islamabad sträubt sich mit militärischen Mitteln gegen die Forderung der belutschischen Stammesführer nach mehr Mitbestimmung in politischen und wirtschaftlichen Sachfragen der Region. Die Regierung deutet die Forderungen als Separatismusbestrebungen. Präsident Musharraf hat im Juli 2006 drei von insgesamt 77 Sardars (belutschische "Tribal Chiefs") als Hindernisse für eine positive Entwicklung und Förderung der Demokratie ausgemacht [5] und eine "operation to change the situation" befugt, denn "these elements should be wiped out of the country" [6] . Seitdem verhaftet Islamabad jährlich etliche Dissidenten. Die Human Rights Commission of Pakistan (HRCP) zählte 2006 170 "disappearances" in Belutschistan. [7] Die schweren Kämpfe gegen belutschische Nationalisten und das Verhaften von Dissidenten erklärt Islamabad unterdessen mit dem staatsweiten Kampf gegen den Terror. HRCP beklagt jedoch die Willkür, mit der die Regierung unter Musharraf jenseits der Terrorverdächtigen auch politische Gefangene nimmt. [8]
 
In Belutschistan kommen unterschiedlichste Konfliktlinien zusammen. Einerseits ist die vormalige Unterstützung der Mujaheddin durch massive politische und materiale Aufwertung der paschtunischen Flüchtlinge zum Bumerang für die pakistanische Regierung geworden. Andererseits versucht Islamabad nun, in diesem Kampf gegen die islamistischen Kräfte, gleichzeitig die belutschischen Nationalisten, die schon länger keine völlige Autonomie sonder mehr Partizipation an den regionalen Entscheidungen fordern, als religiös-extremistischen Gegner zu diffamieren und zu bekriegen. Auch wirtschaftliche Interessen stehen dabei für Islamabad im Vordergrund.
 
In den letzten Jahren rückte der Ausbau des Tiefseehafens in Gwadar immer stärker in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit. Die strategische Nähe des persischen Golfes prädestiniert Gwadar als Umschlaghafen für Importe aus dem arabischen Raum. China finanziert das Projekt mit, denn die Volksrepublik möchte in naher Zukunft über Gwadar und dem verlängerten Karakorum Highway und einer geplanten Gaspipeline Teile seiner Energieimporte über den Landweg erhalten. Auch die Regierung in Afghanistan möchte eine mächtige Transitstraße für einen verbesserten Handel nach Gwadar bauen, Turkmenistan plant darüber hinaus seinerseits eine Gaspipeline durch Afghanistan nach Gwadar und Iran, Indien und Pakistan planen ihrerseits eine kooperative Zusammenarbeit bei dem Bau einer Gaspipeline von Indien bis in den Iran quer durch den pakistanischen Punjab und Belutschistan An diesen Entwicklungen möchten die Machthaber in Islamabad, die sich aus Sindhs und Punjabis zusammensetzen, die Belutschen so wenig wie möglich teilhaben lassen. Belutschische Extremisten torpedieren jegliche Entwicklung ihrerseits, indem sie bspw. chinesische Arbeiter entführen und umbringen, um so ihren Ruf nach Teilhabe auf gewalttätige Weise Gehör zu verschaffen. Um wiederum die ausländischen Investoren nicht zu verschrecken, geht das pakistanische Militär weiter mit aller Härte gegen Nationalisten, Separatisten und Aufständische vor und erweitert stets seine Truppenpräsenz in der Provinz.
 
Der gewalttätige Konflikt zwischen Aufständischen und Militär hat zur immensen Vertreibung der Zivilbevölkerung geführt. Von Dezember 2005 bis Oktober 2007 sind annähernd 84.000 (andere Quellen sprechen von über 200.000) der knapp acht Millionen Belutschen vertrieben worden. [9] Viele leiden unter Mangelernährung und leben in Flüchtlingscamps in der Nähe der Provinzgrenze zum Sindh. Ausländischen Hilfsorganisationen wird ebenso wie einheimischen Medienvertretern der Zugang zu den Camps oder in die Gebiete der gewalttätigen Auseinandersetzungen nur in Ausnahmen gewährt. Als im Juni 2007 ein Zyklon weite Küstengebiete in Belutschistan verwüstete und 100.000 Menschen obdachlos machte, verwehrte die pakistanische Regierung auf einer Geberkonferenz der UN jegliches Hilfsangebot. Grund für diese Ablehnung war nach Sicht von Experten die Angst Islamabads, die westlichen Verbündeten würden etwas über den brutalen Kampf in Belutschistan erfahren, der offiziell als "Kampf gegen den Terror" deklariert wird.
 
[1] Belutschistan hat bis heute die geringste Bildungsrate, die wenigsten Bildungseinrichtungen und die höchste Arbeitslosenquote aller pakistanischen Provinzen.
[2] Der Schah von Persien wollte den Aufstand der Belutschen soweit wie möglich von iranischem Territorium fernhalten, da er einen erneut gewalttätigen Aufstand im eigenen Land fürchtete. Denn die iranische Belutschistan Liberation Front kämpfte kurz zuvor von 1968 bis 1973 gegen das Schah-Regime. Sie forderte ein "Großbelutschistan", in dem sich alle Belutschen aus Teilen von Iran über den Süden Afghanistan bis zum Sindh in Pakistan vereinten (Vgl. Orywal, Erwin (2002): Krieg oder Frieden. Eine vergleichende Untersuchung kulturspezifischer Ideale – Der Bürgerkrieg in Belutschistan / Pakistan: S. 275 und 369).
[3] So wurde beispielsweise der ehemalige Kommandeur der Taliban in Südafghanistan, Mullah Dadullah Akhund, der wegen seiner Grausamkeit weltweite Berühmtheit erlangte, in der radikalislamistischen Shaldara-Koranschule von Noor Mohammed in Quetta ausgebildet. Der afghanische Präsident Hamid Karzai nennt Noor Mohammeds Shaldara-Koranschule eines der Hauptquartiere der Taliban (Vgl. Koelbl, Susanne / Ihlau, Olaf (2007): Geliebtes, dunkles Land. Menschen und Mächte in Afghanistan: S. 63f.)
[4] Vgl. ICG (2006): Pakistan: The Worsening Conflict in Balochistan; International Crisis Group, Asia Report No. 119 – 14. September: S. 8
[5] Islamabads Interesse lag im Besonderen auf Nawab Akbar Khan Bugti, der als Führer der verbotenen Balochistan Liberation Army (BLA) galt, die sich zu mehreren Attentaten auf Regierungsgebäude und Personal bekannten. Bugtis Stamm ist darüber hinaus in der Region Dera Bugti ansässig. Genau dort lagern die größten Gasvorkommen Pakistans und die Regierung befürchtete, eine ungestörte Förderung wäre nicht möglich, solange Bugti am Leben wäre. Im August 2007 wurde der 79-jährige Bugti bei einem militärischen Gefecht getötet. 
[6] Pakistans neuer Präsident Asif Ali Zardari hat jede Rede seines Vorgängers Pervez Musharraf aus dem Online-Datenarchiv nehmen lassen, weswegen hier nun nicht mehr auf das Original-Dokument verwiesen werden kann.
[7] Vgl. ICG (2007): Pakistan: The forgotten Conflict of Balochistan; International Crisis Group, Asia Briefing No. 69 – 22. Oktober: S. 4
[8] Unter früheren Regierungen, "there were one or two cases, but not the systematic disappearances by the intelligence agencies under Musharraf", sagt Iqbal Haider, der Generalsekretär von HRCP der New York Times .
[9] Vgl. ICG (2007): Pakistan: The forgotten Conflict of Balochistan; International Crisis Group, Asia Briefing No. 69 – 22. Oktober: S. 5f.














Pahlawan (Meister) Rasool Bakhsh Zangshahi



Song; Waäe Watan, Waäe Watan.